Islam: Religiöse und politische Gemeinschaft

Islam: Religiöse und politische Gemeinschaft
Islam: Religiöse und politische Gemeinschaft
 
Die von Mohammed begründete Umma war eine religiöse und zugleich politische Gemeinschaft; auch die Ausbreitung des Glaubens war eng mit der Erringung politischer Herrschaft verbunden. Dies erklärt die ungeheure Dynamik, mit der der Islam an Einfluss gewann. Schon der erste Kalif Abu Bakr unternahm militärische Expeditionen bis nach Palästina und Süd-Irak. Sein Nachfolger Omar eroberte 635 Syrien, 639-641 Ägypten und 640-644 Persien. Zwölf Jahre nach dem Tod des Propheten gehörte ein riesiges Gebiet zur islamischen Gemeinschaft, das von Othman weiter ausgedehnt und stabilisiert wurde. Trotz der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Hauptgruppen, den Sunniten und Schiiten, hat der Islam nichts von seinem Expansionsdrang verloren.
 
Die Dynastie der Omaijaden verlegte ihren Regierungssitz vom bisherigen Zentrum Medina nach Damaskus. Die Omaijaden vermochten es, ihr Reich nach allen Seiten gewaltig auszudehnen - nach Nordafrika bis zum Atlantik, von Spanien bis nach Südfrankreich, in Vorstößen bis nach Byzanz und Indien. Die staatstragende Basis war hierbei zunächst die arabische Bevölkerung; mit der Integration fremder Völker und Kulturen traten neue islamische Staatsvölker hinzu. Juden und Christen, in vielen Gebieten zahlenmäßig zunächst in der Mehrheit, wurden als »Schriftbesitzer« toleriert; sie hatten den Status von »dhimmis« (= Schutzbefohlenen). Eine von ihnen erhobene Kopfsteuer veranlasste aber vor allem Vermögende, zum Islam überzutreten.
 
Verfallserscheinungen führten zum Untergang der Omaijaden. Eine Restaurationsbewegung brachte Abbas, Nachfahre eines Onkels Mohammeds, an die Macht: Er verlegte den Regierungssitz von Damaskus vorübergehend nach Kufa, ab 756 nach Bagdad. Unter der mit Abbas beginnenden Dynastie der Abbasiden entstand ein blühendes Gemeinwesen, jetzt mehr ein islamisches als ein arabisches Reich; vor allem persische Einflüsse wurden prägend. Seine größte Ausdehnung und kulturelle Entfaltung erreichte es zur Zeit des sagenumwobenen Kalifen Harun ar-Raschid, der von 786 bis 809 regierte. Unter seinem zweiten Nachfolger wurden »naturwissenschaftliche« und philosophische Werke der griechischen Antike ins Arabische übersetzt. Seit dem 10. Jahrhundert wurde die Zentralgewalt jedoch zunehmend geschwächt. Regionale Fürsten konnten immer mehr Macht gewinnen; zwar waren sie der Form nach Vasallen Bagdads, faktisch aber regierten sie selbstständig. 932 nannte sich ein solcher Fürst in Persien zum ersten Mal »Sultan« (= uneingeschränkter Herrscher). In der Folgezeit entstanden immer mehr Sultanate. Auch diese »kleineren« Reiche waren noch sehr dynamisch; Persien beispielsweise konnte seinen Einflussbereich bis nach Nordwestindien ausdehnen.
 
Im Jahr 969 machte sich die schiitische Dynastie der Fatimiden in Ägypten von Bagdad unabhängig. Sie brachte ganz Nordafrika unter ihre Herrschaft. 1171 wurden die Fatimiden in Ägypten von einer kurdischen Dynastie, den Aijubiden, abgelöst; der berühmteste Vertreter dieser Dynastie war Saladin, Sultan von Syrien und Ägypten, der edle Kontrahent der Kreuzfahrer. Diese Familie wurde später wiederum von der Herrschaft der Mameluken abgelöst: Der Sultan wurde nun aus den Kreisen russischer oder asiatischer Militär-»Sklaven«, der Mameluken, gewählt. 1516 schließlich verlor Ägypten seine Selbstständigkeit an die Osmanen.
 
Schon seit dem 10. Jahrhundert drangen nomadische türkische Stämme, die Seldschuken, nach Süden, nach Mesopotamien, vor und wurden islamisiert; wegen ihrer militärischen Fähigkeiten konnten es manche ihrer Führer zu großem Einfluss im Abbasidenreich bringen, und seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts enstand ein erstes seldschukisches Reich mit Zentrum in Persien. 1071 eroberten die Seldschuken Teile Kleinasiens und gründeten auch dort, mit der Hauptstadt Konya, ein mächtiges Reich, das Reich der Rumseldschuken. 1258 wurde die gesamte Region von den Mongolen überrannt: Die abbasidische Dynastie fand ihr Ende, ebenso das rumseldschukische Reich; einige kleinere Regionen konnten allerdings ihre Selbstständigkeit behaupten.
 
In einem dieser Reiche etablierte sich das Geschlecht der Osmanen, dem bald die wichtigste Rolle in der islamischen Gesellschaft zufallen sollte. 1326 eroberten sie fast ganz Kleinasien und verlegten ihre Hauptstadt nach Bursa in der nördlichen Türkei und bald nach Edirne auf dem europäischen Festland. Jetzt war das ehedem mächtige Byzantinische Reich zu einer kleinen Enklave zusammengeschrumpft, deren Ende abzusehen war. 1453 fiel Konstantinopel, das oströmische Reich bestand nicht mehr; die Stadt wurde unter dem Namen Istanbul Hauptstadt des osmanischen Großreiches. 1516 eroberten die Osmanen Ägypten, in der Folgezeit brachten sie Arabien unter ihre Herrschaft sowie weite Teile Südosteuropas; sie gelangten 1529 bis vor die Tore Wiens. In osmanischer Zeit setzten sich in Persien endgültig die schiitischen Bewegungen durch; Persien machte sich selbstständig und proklamierte 1502 - mit der Thronbesteigung Ismails - die schiitische Lehre zur Staatsreligion. Auch in Nordindien und in einigen Gebieten Südindiens konnte sich der Islam etablieren.
 
Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert verlor jedoch das Osmanische Reich seine frühere Dynamik; es kam zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Stagnation, die zum politisch-militärischen Niedergang und schließlich zum Ende des Osmanischen Reiches führte. Die Türkei, Kernland und Restbestand des Reiches, richtete sich, im Gefolge der Reformen Atatürks, der das Sultanat von Istanbul beseitigte, das Kalifat abschaffte und stattdessen 1923 die Republik ausrief, als säkularisierter Nationalstaat nach europäischem Muster ein.
 
Im 19. Jahrhundert gerieten weite islamische Gebiete rund um das Mittelmeer und in Indien unter die Kolonialherrschaft der europäischen Mächte. Erst im Gefolge der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sie ihre politische Selbstständigkeit wiedergewinnen, die sie allerdings nicht mehr wie früher in einer übergreifenden staatlichen Organisation, sondern nationalstaatlich verwalten. Die Überfremdung durch den Westen und der antikolonialistische Kampf um die Behauptung der eigenen Selbstständigkeit in Kultur und Religion führten notwendig zu einer vertieften Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, oft auch zu Versuchen einer Restauration sowie zur Einführung der Scharia als staatliches Gesetz und begünstigte die Entstehung von fundamentalistischen Bewegungen.
 
Prof. Dr. Karl-Heinz Ohlig
 
 
Hartmann, Richard: Die Religion des Islam. Eine Einführung. Berlin 1944. Nachdruck Darmstadt 1992.
 Hourani, Albert: Die Geschichte der arabischen Völker. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Frankfurt am Main 21996.

Universal-Lexikon. 2012.

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